Ruhestätte

Von Tatjana Petzer, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Berlin

Eine Freundin, die im Urlaub gern abseits touristischer Wege durch Stadt und Land wandert, versicherte mir, ein Friedhof sei ein nicht zu verachtender Rastplatz auf der Durchreise. Nicht nur der vollkommenen Ruhe wegen, die höchstens mal ein Friedhofskätzchen durchstreift. Jeder Flecken ist saubergefegt und hübsch hergerichtet. Ein solches Lager bietet vielmehr ein andächtiges Panorama unter freiem Himmel – eine Kulisse der Ehrfurcht, die Reisenden Ruhe vor der Unrast bietet.

Mausoleum auf dem Friedhof Ohlsdorf

Auf Kirchhof oder Gottesacker, in der Familiengruft oder im FriedWald sollen Tote ihre letzte, ja allerletzte, ungestörte und ewige Ruhe finden. Freilich nur symbolisch. Denn über und vor allem unter der Erde ist das Grab, ganz bildlich gesprochen, eine ‚Raststätte‘ der Natur. Wie lange der Leichnam per Gesetz in der Grabstätte mindestens ruhen muss, hängt von der Verwesungszeit unter den lokalen ökologischen Bedingungen ab. Nach der Mindestruhe wird dann bei Toten in Reih und Glied zum Doppelstockgrab aufgesattelt. Bei Mietgräbern sind die Ruhezeiten eine Frage des Geldes. Graböffnung und Umbetten sind per Gesetz Störungen der Totenruhe und bedürfen eines triftigen Grundes sowie einer amtlichen Genehmigung. Was aber sonst auf und zwischen den Gräbern passieren darf, ist eine Frage der Pietät und wird überall und von jeher sehr unterschiedlich empfunden. 

Einige Menschen sind bemüht, sich in ihre Toten hineinzuversetzen: Grufties, Goths, Wahl-Vampire und Gruselfans wählen gern Sarg und Friedhofsambiente für die Nachtruhe. Bei den Toten zu schlafen, ist tabu, selbst probehalber oder zu Halloween. In der philippinischen Hauptstadt dagegen schläft und lebt es sich für die Armen auf dem Friedhof besser als in den Slums von Manila. Dann trennt eine Marmorplatte die Lebenden von den Toten, dienen Grabplatten als Tische und Betten. In Mexiko ist Trubel auf dem Friedhof bei den dekorativen Festivitäten zu Ehren der Toten am Dia de los Muertos Gesetz. Die begrünten Miniaturparadiese hierzulande, die nur als Augenweide dienen sollen wie ein ordentlich gemachtes Bett, nehmen sich da blass und unbelebt aus. Nur wenige Friedhöfe und Gräber sind auch Pilgerorte, einige davon regelrecht Touristenmagnete mit lebhaftem Vermarktungsapparat. Vielleicht gelten für die Totenruhe von Herrschern und Feldherren, Dichtern und Celebrities andere Maßstäbe. 

Um 1900 vertrat der russische Denker Nikolaj Fjodorow die Idee, Friedhöfe in Krankenhäuser umzuwandeln und die Toten, auf der Grundlage ihrer Überreste, sprich aus ihrem Staub, und mithilfe der neuen medizinisch-technischen Erkenntnisse aufzuerwecken. Moderne Reanimationstechniken (einschließlich der von Fjodorow antizipierten Gen- und Informationstechnologien) waren Garanten dafür, dass die christliche Botschaft von der Auferweckung eines Tages Realität werden wird. Auch wenn Jesus, der seine Grabstätte am dritten Tag verlassen haben soll, mit gutem Beispiel voranging, bleibt offen, ob dies gegen die Totenruhe verstößt.