Klagefrauen

Von Tatjana Petzer, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Berlin

Still ist der Tod, der Anlass gibt zu lauter Trauer. Doch wo ist das gemeinschaftliche Weinen und Klagen geblieben, das ehemals die Verstorbenen in das Reich der Toten geleitete? Lautlos ist die Trauer geworden, seitdem die Totensorge von Bestattungsunternehmen übernommen wurde. Nicht nur ist hierzulande die Totenklage aus der Öffentlichkeit verschwunden, selbst im privaten Kreis der Familie wird leiser getrauert. Dabei brauchen die Toten nicht weniger Beistand als die Trauernden. Um ihre Passage aus der Welt der Lebenden in das Reich der Toten zu meistern, wurden die Toten von Tränen und Gejammer, Beten und Singen, Tänzen und Ritualen begleitet. Dieses Spektrum des Klagens oblag Frauen, denen es gelang, die Verbindung zwischen den beiden Welten herzustellen, wie auch bei der Geburt, wo sich das Werden und das Sterben gefährlich nahekamen. 

Bestattung Berlin Kreuzberg, 12. Mai 2022, Alter Luisenstädtischer Friedhof, Sterneneltern haben ihr Kind in einem weißen Sarg beigesetzt.
Geburt und Abschied zugleich

Aus dem alten Ägypten sind bereits eindrucksvolle Abbildungen von wehklagenden Frauen überliefert, die sich in ihrer Trauer auf die Brust schlagen und die Tamburine schlagend tanzen. Trauer musste angemessen zu Gehör und zu Gesicht gebracht werden. Es war Brauch, professionelle Klagefrauen zu engagieren. Oftmals waren es die Ärmsten der Armen, die nicht nur ein besonderes Talent zum Dichten und Singen hatten, sondern auch die Gabe der Empathie, des Ein- und Mitfühlens. Profit schlugen sie nicht aus dem Leid anderer. Auch nachdem um 1900 das Lamentieren aus der Öffentlichkeit verdrängt und verboten war, weil es als störend und zur emotionalen Konfusion führend empfunden wurde, fand man nur noch in entlegenen dörflichen Gegenden die schwarzgekleideten Klagefrauen – in Finnland, Georgien, Sardinien, auf Korsika und insbesondere in Südosteuropa. Jede noch so betagte Klagefrau wird heute von Ethnologen aufgespürt, um an der verschwindenden Tradition teilzuhaben. 

Im Jahre 2000, bei der Beerdigung meiner russischen Großmutter neben Großvater auf einem muslimischen Friedhof in Zentralasien, fühlte auch ich mich ein wenig wie eine Kulturforscherin. Denn alles verlief für mich, die ich in einem atheistischen Elternhaus in der DDR aufwuchs und keine Erfahrungen mit multikulturellen Bestattungen hatte, unerwartet. Nicht nur, dass die tote Großmutter im offenen Sarg in der Wohnung lag, die ich noch aus früher Kindheit kannte. Wir saßen am Sarg, empfingen Gäste und erzählten uns Geschichten, aßen, weinten und lachten, beteten mit dem Imam und stellten Kerzen in der orthodoxen Kirche auf. Dann, am Tag der Bestattung, saßen wir einige Stunden in einer im Hof aufgestellten Jurte im Halbkreis um den Sarg, meine Tante jammerte unaufhörlich, meine Mutter trug zumindest ein Kopftuch (mir wäre das damals nicht in den Sinn gekommen), die Trauergäste gingen um den Sarg herum, strichen Großmutter über das Gesicht und legten Blumen auf den Teppich. Nach einer abschließenden Zusammenkunft im Hof, wo vor der großen Gesellschaft Trauerreden gehalten wurden, setzten sich alle in Bewegung zum Tor. Dort verriegelten wehklagende Frauen den Hof. Ich kannte sie nicht, vermutlich Großvaters weitläufige Verwandtschaft vom Land, denn sie halfen auch beim Kochen und Bewirten der zahlreichen Trauergäste. Nur die Männer durften auf den Friedhof. Und inmitten des jammernden Schwarzes zurückbleibend, brachte ich keinen einzigen Ton hervor.    

Mit den postkommunistischen Zerfallskriegen stieg wieder die Nachfrage nach gemeinschaftlicher transethnischer Trauer. Zunächst auf dem Balkan, wo sich die Frauen in Schwarz engagieren, wo an Orten des Zusammentreffens schwermütige Sevdah-Musik erklingt, in den Traumazentren religiöse Lieder gesungen werden und der Film „Charlston für Ognjenka“ a.k.a. „Tears For Sale“ des viel zu früh verstorbenen serbischen Regisseurs Uroš Stojanović das Image des balkanischen Klageweibs veränderte. Vielleicht kann eine Tradition nicht wiederbelebt, aber doch in eine moderne Form der Klage übertragen werden? 

Das Klagelied vereint untrennbar Weh- und Anklage. Das gilt nicht zuletzt für die literarische Tradition, die weniger formelhaft ist als das Totenklagen. Eine große Rolle spielen dabei die jüdischen Dichtungen aus dem Alten Testament im klagenden Duktus, hebräisch ‚Kinot‘, die sich aus den Totenklagen heraus entwickelten. Die Klagelieder Jeremias, die am Tag zum Gedenken der Tempelzerstörungen in Jerusalem rezitiert werden, zeigen zudem die enge Verbindung von Schrift und Stimme auf, die das Klagelied letztlich erst zu dem macht, was es ist. Auch die mittelalterliche Literatur, die sich, als Echo auf das biblische Klagelied, in ein großes Gefäß des Schluchzens und Weinens, Seufzens und Klagens verwandelte, ist auf das physische Durchleben des Schriftkörpers gerichtet. Die Klage, schrieb der deutsch-jüdische Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin in seinem Essay „Vom Naturlaut über die Klage zur Musik“ von 1916, sei der „ohnmächtige Ausdruck der Sprache“ und auch ein Schritt aus der Trauer, worin „der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit“ liege. Die Frage, wie Trauer sich offenbart, führte Benjamin vom stummen Klang über das Klagen zur Musik. So erweist sich die Klage in mehrfacher Hinsicht als liminal, also als eine Überschreitung von Grenzen: zwischen Verstummen und Schrei, Verkörperung und Versprachlichung, zwischen Ton und Wort, Emotion und Stimme. 

Ich habe mich mit meiner Tochter Anna, die das Fach Musik in Bewegung studierte, bevor sie ihren Schwerpunkt auf Medienkunst setzte, viel über Klagelieder und die Klagefrauen in Südosteuropa unterhalten. Wie durch das Singen in der Gemeinschaft sich Schmerz und Emotionen angesichts des großen Verlusts nicht verhärten, sondern vielmehr durch reinen Schmerz zur Katharsis führen. Beim freien, improvisierten Klagen steigern sich die Frauen immer tiefer in Erinnerung und Emotion hinein, durchleben am eigenen Körper den physischen Schmerz der Trauernden, verwandeln sich in ein Medium, durch das sich die tiefe Trauer der Betroffenen erst offenbaren kann. Das spüre ich auch, wenn ich Anna sehe, wenn sie nun selbst in der Rolle des Klageweibs instinktive, archaische Klangfarben und ihre Echos im kultivierten, künstlerischen Klagelied auf die Bühne bringt. Durch den resonierenden Körper, die Stimme und Gebärden entfaltet sich die heilsame Kraft der Klage.